Donnerstag, 25. März 2010

Der unsichtbare Mensch

Hallo liebe Leserinnen und Leser,


Kürzlich las ich wieder einmal in Carl Spittelers „Meine frühesten Erlebnisse“. Als ein Geheimtipp wird dieser weitgehend vergessene Schweizerautor seit vielen Jahren von mir behandelt. Ihm wurde, es soll immerhin erwähnt sein, bis jetzt als einzigem Schweizer dieser Sparte 1920 der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Spitteler beginnt in seinen Beschreibungen mit Erinnerungen, die in eine sehr frühe Kindheit, nämlich bis in das erste Lebensjahr, als er noch herum getragen wurde, zurück gehen. Es sind Erlebnisse und Eindrücke, die sich in seine bewusste Erinnerung eingeprägt haben, als er in seinem Erleben noch ohne Begriffe, die erst später zugeordnet wurden, auskommen musste. Er benennt aber gerade diese allerersten Erlebnisse, deren er sich erinnern kann, als die bedeutsamsten seines ganzen Lebens. Ich zitiere aus seinen autobiographischen Notizen.

„Wenn mich aber jemand fragte: ‚Wann in deinem Leben warst du am meisten Ich? welches deiner Ich in den verschiedenen Lebensstufen geht dich am nächsten an? welches davon würdest du bekennen, falls du wählen müsstest?’- so würde ich antworten: ’Das Ich meiner frühesten Kindheit’.
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„Innwendig im Menschen“, sagt er etwas früher, „gibt es etwas, man nenne es Seele oder Ich oder wie man will, meinetwegen X, das von den Wandlungen des Leibes unabhängig ist, das sich nicht um die Fassungskraft des Gehirnes kümmert, das nicht wächst und sich entwickelt, weil es von Anbeginn fertig da war, etwas, das schon im Säugling wohnt und zeitlebens gleich bleibt. Sogar sprechen kann das X, ob auch nur leise. Es sagt, wenn ich seinen fremdländischen Dialekt recht verstehe: Wir kommen von weitem her.“

Als ein Zuschauer erlebt sich Spitteler in dieser Phase seiner frühsten Kindheit. Die Welt, in die er hinein geboren wird, erlebt er als Bühne, auf die er schaut. Er beschreibt das selber in folgender Weise:

„Nicht die Bühne, der Zuschauer ist es, der im Theater, das ich meine, Andacht verdient. Zwar ein sonderbarer, kümmerlicher gestalteter Zuschauer: ein hilfloses, zwerghaftes Geschöpf ohne Sprache, ohne Zähne, mit lächerlich kleinen Gliedern und einem unmässig grossem Kopf; aber aus dem Kopfe Blicken zwei klare, kluge Augen, die, ob noch unerfahren, nicht wissend, was sie sehen, Nähe und Ferne nicht schlichtend, eifrig schauen, saugen und schöpfen; und hinter den Augen lauscht das Edelste, wovon wir Kunde haben: die lebendige Seele.“

‚Die lebendige Seele’, oder eben, ‚Das Ich der frühsten Kindheit’ wird hier als der Zuschauer erlebt, der sich zeitlebens gleicht bleibt, der in dieses Erdenleben mit hinein gebracht wird von weitem her, ganz unabhängig von der leiblichen Beschaffenheit.

Was ist dieser Zuschauer in uns, der von Spitteler in seiner Kindheit erlebt und erinnert wird, der gewöhnlich nicht in der Erinnerung der Menschen bleibt, wohl aber das ganze Leben hindurch leise in jedem von uns spricht? In der Sprache der Philosophie oder Psychologie könnten wir wohl vom höheren Ich, oder höheren Selbst sprechen. Von Spitteler wird dieser Zuschauer als das Ich erlebt, mit dem er sich am tiefsten verbunden fühlt und das ihn in seinem Seinserleben am vollkommsten wiedergibt.

Christian



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